Was ist die Kunst bei der Schmerztherapie? – Dass man auf den Patienten individuell eingeht. Und das Wort „Kunst“ nehmen wir heute sogar wörtlich.
„Solange die Vernunft schläft, erzeugt die träumende Phantasie Ungeheuer. Vereinigt mit der Vernunft aber, wird die Phantasie zur Mutter der Künste und all ihrer Wunderwerke.“ Dieser Kommentar stammt von Leon Feuchtwanger. Er bezieht sich auf ein Bild von Francisco de Goya, der darin die Dämonen des Schlafes gezeichnet hat. Verstehen wir Feuchtwanger richtig? Wach auf und deine Dämonen entpuppen sich als Phantasie, die du sogar in Kreativität umwandeln kannst?
Die Kunsttherapie geht bei der psychosomatischen Schmerztherapie eigentlich genau in diese Richtung. Schmerzchroniker neigen dazu, sich nur noch auf den Schmerz zu fokussieren. Im Gehirn und in den Nervenzellen passiert einfach ausgedrückt folgendes: Alle beschäftigen sich mit dem Schmerz … Das Wort „Konzentration“ ist hier ein echtes Zauberwort, denn es drückt genau das Problem aus. Es bedeutet: Die eigene Aufmerksamkeit nur mehr auf eine Sache zu lenken – nämlich den Schmerz. Für andere Wahrnehmungen ist kein Platz mehr in uns selbst. Wie nun sollte man in sich selbst wieder Platz für etwas anderes als den Schmerz schaffen? – Indem man ihn sich ausmalt.
Die bildende Kunsttherapie gibt Schmerzpatienten die Möglichkeit, dem eigenen Schmerz ein Gesicht zu verleihen, das auf die Leinwand gebannt wird. Ein extrem gutes Beispiel hierfür ist das berühmte Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch. Hier schreit das Bild für den Künstler, also muss der Künstler eigentlich nicht mehr schreien. Im Gegenteil: Wer aus seinem Schmerzich heraustritt und es von außen betrachtet (z. B. in einem Bild), erkennt, dass es vielleicht gar nicht so beeindruckend ist, wie man gedacht hat. Folgt man wieder dem Bild von Goya, der die Dämonen des Schlafes gemalt hat, sieht man: Diese Dämonen sind plötzlich außerhalb des Körpers. Künstlerisch aus seinem alten schmerzgeplagten Ich herauszugehen, stellt einen aktiven Veränderungsprozess dar, der sich automatisch auch körperlich auswirkt über die Muskel- und Faszienspannung und die Ausschüttung bestimmter Hormone. Beides wirkt sich nachweislich schmerzlindernd aus.
Für „austherapierte“ Schmerzchroniker hat die Kunsttherapie aus meiner Sicht eine noch viel wichtigere Funktion. Wer seit Jahren einem Therapeuten nach dem anderen seine Beschwerden schildert und keine Antworten bekommt, verstummt irgendwann automatisch. Die Ursache für chronische Schmerzen zu erkennen, erfordert aber eines ganz besonders: die Kommunikation zwischen Therapeut und Patient nach dem Motto „sag mir, wo es dir weh tut“. Chroniker tun sich oft schwer, ihre Beschwerden zu beschreiben, weil ihnen niemand mehr zuhören wollte. Seinen Schmerz zu malen ist eine Möglichkeit, aus sich herauszugehen, ohne sich verbal äußern zu müssen. Und wer sich seinen Schmerz erst einmal ausgemalt hat, findet vielleicht in sich selbst wieder Platz für etwas anderes. Zum Beispiel die Freiheit, seine Gedanken tanzen zu lassen.
Und das ist das Thema, über das ich im kommenden Blog gerne schreiben möchte: die Tanztherapie.
Ihr Hubert Brüderlein